Zugliteratur – was in der Bahn lesen? Pendlergeschichten #14

Buecher von Hakan Nesser fuer die Bahn

Kennt ihr folgendes Soziales Experiment? Lasst auf Arbeit einfach mal das Buch, was ihr gerade lest, mit dem Klappentext nach oben im Pausenraum liegen. Nach einiger Zeit wird sich ein Gespräch darüber anbahnen, was für eine oder einer du doch seist, der „solche Bücher“ konsumiert 😉 Sollte die Kritik dann zu hart ausfallen, gebt an, dass eure Bibliothek einfach nicht mehr hergibt. Ich erzähle euch heute, was meine mir bisher so spendiert hat – spoilerfrei und im doppelten Sinne lesenswert!

Schnellübersicht (per Klick gleich zum Autorenabschnitt im Artikel navigieren):

?  Arne Dahl
?  Hakan Nesser
?  Charlotte Link
?  Einzelwerke

Was tun auf der Bahnfahrt?

Meinen Beobachtungen zufolge gibt es fünf Zeitvertriebe, die für Pendler als Timekiller in Frage kommen.

  1. Schlafen (Nachteil: die Vulnerabilität)
  2. Musik hören („Huch, schon wieder die Station verpasst!“)
  3. Arbeiten („Wo gibt’s denn hier Strom für meinen Apple?“ / „Hast du gestern Mathe noch gemacht?“)
  4. Freiwilliges Lesen
  5. Nichtstun

Die Nichtstuer werden insgeheim am meisten bewundert, insbesondere von Frauen. Denn meist sind das Männer, die über die übermenschliche Gabe verfügen, dazusitzen und einfach an nichts zu denken. So wirklich an…überhaupt nichts.

Indes, um in der Bahn lesen zu können, müssen für bestimmte Lesertypen ganz verschiedene Kriterien erfüllt sein. Als da wären:

  • Es muss ein dünnes Buch sein, wegen des Transportgewichts
  • Man muss in Fahrtrichtung sitzen, zum Behuf der Übelkeitsvermeidung
  • Must-have ist der Fensterplatz, da Leute sonst im Gang gegen die Arme stoßen
  • Hinter einem soll keiner stehen und mitlesen können
  • Vor einem soll keiner sitzen und einen schlüpfrigen Buchtitel sehen können…

…ODER in Angesicht eines Buchs von John Grisham (dessen Bücher wahrscheinlich jeder vor mir gelesen hat) nicht spontan ausrufen: „Oh, das Buch kenn ich doch – das ist doch, wo am Ende der Makler die Freundin von dem Polizisten umgebracht hat und…“

Danke, nächstes Buch. Was für euch beim Lesen in der Bahn wichtig ist, schreibt mir in die Kommentare. Meine Buchtipps für den Zug kommen jetzt!

Arne Dahl und die „A-Gruppe“ und das „OPCOP-Team“

Seit Henning Mankells Tod streiten sich die Kritiker darüber, wer der einzig legitime Nachfolger des Schöpfers von Figuren wie Kommissar Wallander wohl ist. Aber so, wie man auch Musiker oder Köche untereinander nur schlechterdings vergleichen kann, ist dies bei Schriftstellern genauso.

Der Schwede Arne Dahl wird oft als Nachfolger Mankells gehandelt. Mit der Stockholmer Elite-Kriminalpolizeieinheit der A-Gruppe und dem an diese Reihe nahtlos anknüpfenden Europol-Ermittlerteam OPCOP hat der 53jährige brillante Charaktere geschaffen.

Aus ihnen gehen mit jeder Veröffentlichung spannende Thriller mit originellen zwischenmenschlichen Beziehungen und herrlicher Situationskomik hervor (Abzüge erhält lediglich der etwas einschläfernde, aber zum Glück recht kurze Prolog eines jeden Buchs).

Auffällig viele Romane finden um das schwedische Mittsommerfest statt, das die Polizisten jedoch ob ihrer Arbeit fast immer schwänzen müssen.

Ich empfehle die Geschichten um Jan-Olov Hultin, Kerstin Holm, Paul Hjelm, Gunnar Nyberg, Arto Söderstedt, Viggo Norlander, Jorge Chavez, Jon Anderson, Lena Lindberg, Sara und Brynolf Svenhagen sowie Waldemar Mörner 😉 uneingeschränkt. Ich gebe drei Titel an, die mir nachhaltig in Erinnerung blieben:

 

TitelJahrBesonderheit
Falsche Opfer (A-Gruppe)2000Irre, aber keine allzu gehetzte Verfolgungsjagd. Dahl gelingt es dazu, die Dynamik von nicht nur einer, aus mehreren Personen bestehenden Gruppe so perfekt nachzuzeichnen, als ob man im selben Raum mit den Protagonisten stünde.
Opferzahl (A-Gruppe)2006Dieses Buch nicht lesen sollte, wer sich allzu viele Gedanken um islamistischen Terror bereitet. Allerdings ist die Sorge unnötig, da die finale Wendung dieses genialen Buchs nichts mehr so erscheinen lässt, wie es vorher glauben machte.
Neid (OPCOP)2014Arne Dahl zeigt sich hier mehr und mehr als politischer Kopf mit Vorliebe zu globalen Zusammenhängen. Von der Beziehung der Kölner Obdachlosen zur osteuropäischen Bettlermafia schafft er den Sprung zum internationalen Rohstoffkapitalismus. Dieses Buch geht uns alle etwas an!

PS: Auch das jeweilige Jahr der Erstveröffentlichung (des Originals) habe ich dazugeschrieben, da ein jeder Leser einen anderen Stand der technischen Ermittlungsmöglichkeiten der Polizei bevorzugt. Ohne DNA-Analyse war zum Beispiel früher alles eine viel höhere Herausforderung als jetzt! 😉

Hakan Nesser und seine Kommissare Van Veeteren und Barbarotti

Hakan Nesser Bücher
Diese Bücher hatte ich gerade da, von den Verlagen kam kein Coverbild. Ich empfehle neben den drei anderen Tipps auch das mittige Buch „Kim Novak…“, das in Schweden Schullektüre ist!

Uh, gleich noch ein schwedischer Autor, und wieder dreht es sich um Krimis – steht doch gleich wieder ein Kommissar da in der Überschrift! Ach tatsächlich? Eine Sache kann ich euch dazu sofort verraten…hierbei handelt es sich nicht um einen gewöhnlichen Kommissar!

Es ist so: Auch Hakan Nessers Romane müssen Bibliothekar und Buchhändlerin irgendwie in ihre Ordnungssysteme einsortieren. Nur, am Genre „Krimi“ bewegt sich der 66jährige peripherst vorbei!

Man sagt, die Bücher von Hakan Nesser sind essayistisch, erzählerisch, sind buntmalerisch und philosophisch; stellen mehr Lebensbetrachtungen denn reißerische Detektivarbeiten dar. Haben trockenen Humor, einen die Genüsse des Lebens schätzenden Hauptkommissar und so manche Lebenslehre – nur keine gewöhnliche Auflösung am Schluss!

Einem Krimi gemein haben die Geschichten um Kommissar Van Veeteren und seine Assistenten Münster, Reinhart, Jung, de Vries, Moreno, Heinemann, Rooth & Co., dass es einen Fall zu lösen gilt. Bis dahin werden allerdings in der fiktiven Stadt Maardam allerhand

  • Zigaretten geraucht,
  • Biere, Whiskeys und Grappa getrunken,
  • Schachpartien ausgefochten

und Beziehungen abgehandelt. Die „VV“-Reihe fand nach zehn Büchern ihren Abschluss, mit Kommissar Barbarotti aber einen würdigen und äquivalenten Nachfolger. Schwer, hier drei Favoriten zu finden, aber es muss wohl sein:

TitelJahrBesonderheit
Das vierte Opfer (Van Veeteren)1994Ein Axtmörder versetzt die Stadt Kaalbringen in Paralyse. Drei Opfer, aber kein Zusammenhang. Nur gut, dass VV mit dem Polizeichef vor Ort in Sachen Lebensphilosophien einen Gleichgesinnten findet. Geiler geht’s nicht. Grandioses Finale!
Der Kommissar und das Schweigen (Van Veeteren)1997Das Thema ist ernst, Kindstötung und ein ominöser Sektenführer. Bei den Teamsitzungen kommt man stellenweise aus dem Lachen trotzdem nicht mehr heraus. Ein spannendes Finale, das eventuell aber tolerante Mitfahrer um Sie herum erfordert.
Eine ganz andere Geschichte (Barbarotti)2007Ich wollte eigentlich nicht so früh damit raus, aber…das spannendste Buch, das ich in den letzten 5 Jahren gelesen habe – und das ist KEIN Marketingsprech. Absoluter Pageturner. Ehrlich, ich krieg dafür keinen Cent vom Verlag. Tut euch dieses Buch an, ihr werdet es nicht bereuen. Danke.

Charlotte Link – unsere nationale Meisterin des Krimis

Auf Buchrücken wird oft durch verschieden auslegbare Anpreisungen von Imperativen für den jeweiligen Autor geworben. Zum Beispiel kann man dann lesen:

  • „Bester deutscher Krimiautor“ (wonach gemessen?)
  • „Erfolgreichstes Buch der letzten Jahre“ (wie viel genau?)
  • „Von Deutschlands bekanntestem Nachwuchsautor“ (wen habt ihr gefragt?)

Bewusst ungenaue Formulierungen, gegen die man im Zweifel ja auch nicht ankommen können soll. Bei IHR hingegen stimmt das Attribut, eine der erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftstellerinnen der Gegenwart zu sein (und wenn es auch nur die der weiblichen Seite ist).

Wenn ihr unterschiedliche Erzählstränge mögt, die erst nach und nach zusammengefügt werden, seid ihr bei Charlotte Link goldrichtig. Ihre Bücher spielen oft in Frankfurt und England, die Protagonisten sind sehr genau beschrieben, doch nicht klischeeüberladen. Hier meine drei Buchtipps von ihr:

TitelJahrBesonderheit
Der Verehrer1998Ein frühes Werk der heute 52jährigen. Die Metamorphose des Robert Jablonski ist absolut nicht vorherzusehen. Ein Buch, in dem man der weiblichen Hauptfigur zurufen möchte: „Tu’s nicht!“; sie es auch wirklich nicht tut, aber trotzdem immer weiter ins Verderben rennt.
Der Beobachter2011Ich habe das Finale von „Der Beobachter“ mehrere Male durchgelesen. Nicht, weil ich zu doof war es zu verstehen, sondern weil neben einem überraschenden Täter auch der emotional rührende Abschluss hier besticht und ein wirklich gelungenes Buch krönt.
Im Tal des Fuchses2012Ich glaube, ich habe die 500 Seiten um Ryan Lee und die (scheinbar?) in einer Kiste eingesperrte und umgekommene Vanessa in drei Tagen durchgecruist! Eine krasse Story, die auch interessante rechtsphilosophische Überlegungen enthält.

Was kann man noch im Zug lesen? Einzelexemplare

Bibliothek in Bornheim, Rheinland
„Meine“ Bibliothek
TitelAutorBesonderheit
mord.netDag Öhrlund & Dan ButhlerAuf diesen Plot dieses Buches ist noch niemand gekommen. Beim Titel habe ich sofort zugegriffen, mutet er doch anders an als die austauschbaren Standardteile á la „Kalte Klinge“ oder „Dunkles Erbe“. Ich wurde nicht enttäuscht!’
Der RoteBernhard KegelDieses Werk sei gesondert hervorzuheben. Durch Bernd Kegels Hintergrund als Biologen tut man die Geschichte um den gewaltigen Riesenkalmar „Der Rote“ nicht als handelsüblichen SciFi-Schrott ab, sondern gerät wahrhaftig ins Nachdenken über das Verhältnis Mensch-Meer.
AbgeschnittenSebastian Fitzek & Michael TsokosFitzek darf in dieser Auflistung natürlich nicht fehlen. Seine Romane sind äußerst blutig, seine Fans mögen das. Wenn ihr auf Cliffhanger am Ende wirklich jedes Kapitels besteht, schnappt euch zum Beispiel „Abgeschnitten“. Hier wird auch mittendrin gestorben!
Girl on trainPaula HawkinsDas kennen die meisten wahrscheinlich, es war das Buch des vorigen Jahres. Die vollschlanke, arbeitslose Rachel und ihre täglichen Alibi-Pendlerfahrten durften allein ihrer wegen in unserer Pendlerstory nicht fehlen. Klare Empfehlung!

Ach übrigens, ein gutes Sachbuch kann ich auch empfehlen. Davon gibt es in Bibliotheken weniger als von Belletristik (da die Leute einen Krimi, dessen Auflösung sie kennen, nicht mehr lesen und stattdessen der Bibliothek schenken, ein Sachbuch hingegen findet lebenslang Verwendung), aber „Der Code des Bösen“ von Sprachprofiler Raimund Drommel kann man sich geben.

Schlussfrage: Wie viel Bücher darf man aus der Bibliothek ausleihen?

Bücherregal
Wen man doch nur mehr Zeit zum Lesen hätt

So, falls ihr jetzt zur Bibliothek rennt und alle meine Literaturtipps auf einmal ausleihen wollt – wie viele Bücher darf man eigentlich aus der Bibliothek ausleihen?

Meine Bibliothekarin lächelt verschmitzt. Dazu findet sich nichts in der Benutzerordnung. Doch kann man sich auf eine ähnliche Verordnung berufen, und die hat dann sogar ein bisschen mit dem Pendeln zwischen Köln und Bonn zu tun:

„Wer in einem öffentlichen Verkehrsmittel bewegliche Sachen transportieren will, darf dies nur in dem Umfang, in dem er diese alleine zu tragen im Stande ist. Und dies gilt auch für die maximale Anzahl an Büchern, die sich jemand ausborgt.“

Damit schließt sich diese Pendlergeschichte, ich freue mich auf die Kommentare vieler Literaturbegeisterter von euch!

Euer Thilo

PS: Zur Not gibt es den Nachbarn, der die Bücherkiste rausstellt. Danke an alle Booksharers!

Bücherkiste in Bornheim


3 Antworten zu “Zugliteratur – was in der Bahn lesen? Pendlergeschichten #14”

    • Hallo Klaus Theißing,

      vielen Dank für die zwei Tipps. Bücherkisten und Booksharing sind im Kommen. Ergänze ich auch noch im Artikel.

      VG Thilo