Der oder das Baiser? Knirps- bzw. Pendlergeschichten #7

Baiser

Frühmorgens, irgendwo zwischen Bornheim und Köln-Süd, in einer ziemlich vollen Stadtbahnlinie. Die Leute stehen gedrängt in den Gängen. Ich sitze an einem Außenplatz einer 4er-Sitzreihe im Gang. Wie jeden Morgen gebe ich den anderen Fahrgästen einen kostenlosen Kurs in Kunstgeschichte. Da auch diesmal niemand zuhören wollte, vertiefe ich mich in mein Buch.

Zwei Knirpse tauchen im Mittelgang neben mir auf. Sie sind vielleicht 9 oder 10 Jahre alt. Sie unterhalten sich in jener Sprache miteinander, die oft nur Schülern gemein ist und der Erwachsene nicht vollumfänglich folgen können.

Der oder das Baiser © Thilo Götze 2015
Um diese Dinge geht es heute. So ein „Blatt“ hätte ich gerne mal wirklich beim Scrabble.

Ein Aufeinanderfolgen von Andeutungen, Kichern und Gesten. So, wie auch wir einst mit unserem besten Freund / unserer besten Freundin in der Grundschule herumgedruckst haben.

Meine Aufmerksamkeit haben sie also zunächst ebenfalls nicht. Das ändert sich erst, als sich das Knirpsgespräch um einen Gegenstand dreht, den ich erst nur als „Bitze“ heraushöre. Was ist ein Bitze bitte? Ich muss doch mal genauer hinhören.

„10 vor 8 ist nicht voll. Kein Problem. Und Bitzés sind immer da.“

– „Ja, ich weiß…und der Bus wartet immer *kicher*.“

„Der Bitzé schmeckt total gut.“

– „Der Bitzé, haha.“

„Der Bitzé, ja.“

– „Tzk.“

„Was…? Der Bitzé, der Bitzé, der Bitzé!“

Beide kichern. Bisher habe ich die beiden lediglich neben mir gewähnt, bekomme visuell nur mit, dass beide sehr helle und einfarbige Jacken tragen.

Jetzt haben sie allerdings mein volles Gehör erlangt, denn ich meine das Wort, um das es hier geht, decodiert zu haben. Es ist ein französisches Süßstoff-Gebäck. Kommt davon, wenn man morgens meist ohne Frühstück losgeht.

„Es heißt das Baiser.“

…gibt der rechte Junge noch wie beiläufig seinem Freund mit. „Was? Ist doch das gleiche. Der Baiser und das Baiser!“ erwidert dieser. Aber gleich darauf berichtigt er sich: „Nee stimmt, es heißt das Baiser.“

Einen Moment Stille. Zwei oder drei Sekunden.

„Mann…du kannst besser Deutsch als ich. Dabei bin ICH Deutscher und du bist Ägypter.“

Der Junge mit offenbar pharaonischen Vorfahren ist etwas irritiert.

„Naah…ich wurde hier geboren…“

– „Trotzdem. Kannst du eigentlich Ägyptisch?“

„Nur ganz wenig. Ich spreche fast nur Deutsch.“

– „Und zu Hause? Sprecht ihr eher Deutsch oder Ägyptisch?“

Sein Kumpel lässt nicht locker. Er ist an den Gepflogenheiten seines Freundes jedoch auf eine ehrliche Weise interessiert, das merkt man. Diese Art, miteinander zu reden, findet man auch eigentlich nur bei Kindern.

„Wir sprechen eigentlich kaum noch Ägyptisch, von uns kann das eigentlich gar niemand mehr.“, erzählt der Gefragte. Mit dieser Auskunft ist es jedoch noch nicht getan. Der deutsche Freund haut noch einen raus:

„Sind deine Eltern mehr deutsch oder mehr ägyptisch?“

Falls es euch irgendwie auch betreffen sollte – versucht darauf mal, eine auch nur irgendwie geartete Antwort zu finden! Für den Kindermund ist es jedoch kein Problem…

– „Halbe – halbe.“

Der Tonfall des ägyptischen Jungen hat eine enorme Gelassenheit. Für ihn sind die Fragen des anderen Steppkes völlig normal.

„Ach so“, sagt der deutsche Knirps nur. Der Vater ist Deutscher, die Mutter Ägypterin, erklärt sein Gegenüber.

Doch das hört sein Freund gar nicht mehr. Nicht aus Desinteresse. Bald kommt schon die Haltestelle, von der an die Jungs ihren Schulweg mit einem anderen Verkehrsmittel fortsetzen müssen, und der deutsche Schüler wendet sich um, um rechtzeitig zur Tür zu gelangen.

„Wir müssen!“, quiekt er. Zieht seinen internationalen Freund hinter sich her und rennt mit ihm in den Regen hinein.

Ich vermute, er stellt sich die Eltern des anderen Jungen ab heute kollektiv als Deutsch-Ägypter vor, die seit mehreren Generationen in Deutschland leben, und manchmal vielleicht am Nil. In den Sommerferien.

Als sie an meinem Fenster vorbeigehen, schaue ich kurz auf. Ägyptische Wurzeln entdecke ich bei dem Jungen, der die Feinheit in der deutschen Grammatik so gut kannte, überhaupt nicht.

Wenn man so etwas überhaupt entdecken kann. Ist schließlich egal. Die beiden verstehen sich, und werden noch mehr übereinander lernen.

In Zeiten wie diesen wünsche ich mir solche ungezwungenen Dialoge auch unter uns Erwachsenen. Scheinen wir nur ab irgendeinem Alter verlernt zu haben.