Ich bin froh, heute nicht aufgegeben zu haben. Als der Mann vom NS-Dokumentationszentrum Köln der wartenden Menge vor seinem Hause mitteilte, dass es keine Karten mehr für die Veranstaltung mit Anne Franks bester Freundin Jacqueline Maarsen und ihrem Ehemann Ruud Sanders mehr gebe. Ich kam doch noch hinein und wurde Zeuge eines wahrscheinlich einmaligen Erlebnisses: Eine der letzten noch lebenden Figuren aus dem Tagebuch der Anne Frank, 87jährig, zu Gast in Köln. Szenen eines denkwürdigen Abends.
18.46 Uhr, U-Bahnhof Appellhofplatz in Köln. Ich entsteige dem Zwischenplateau, um mich sofort Richtung NS-Dokumentationszentrum (NS-Dok) bzw. dem EL-DE-Haus zu orientieren. Lange suchen muss ich nicht, um mein Ziel auszumachen – eine Schlange fast bis zum Besteckmuseum zeigt mir den Weg.
Jedoch nur theoretisch – wie komme ich da jetzt nur noch rein? 19 Uhr würde die Veranstaltung beginnen, von der ich drei Tage zuvor erst im Stadtanzeiger erfuhr. Die Schlange verläuft in einem Bogen, hinter mir reihen sich noch Optimistischere als ich ein, und vorne gibt es fast kein Vorankommen.
Kostenloser Hörplatz für Kölner im EL-DE-Haus
19.02 Uhr, 20 Meter vor dem EL-DE-Haus (war früher ein Nazisitz in Köln, beherbergt heute das NS-Dok). Ein Verantwortlicher von drinnen geht die Warteschlange ab, um mitzuteilen, dass es keine Karten mehr gebe. Wie so häufig zerstreuen sich kurz darauf schon ein paar Leute ob dieser Kenntnis im Wind.
Dafür ist der Weg ins Innere nun frei. Mal sehen, vielleicht kann man ja zumindest etwas hören, wenn schon nicht sehen. Nach gutem Zureden trifft das NS-Dok eine klasse Entscheidung – niemand wird abgewiesen!
In Nebenräumen sind Lautsprecherboxen aufgestellt, und aus dem Recht eines jeden Kölners, das NS-Dok jederzeit aufsuchen zu dürfen, wird eine erweiterte Erlaubnis, heute diesem epochalen Ereignis beizuwohnen. Kölner muss man sein (zum Glück steht auf meiner Fahrkarte VRS…)!
Vortrag über Hans Calmeyer, Judenhelfer in den Niederlanden
Zu Beginn hören wir, auch um die Spannung etwas aufzubauen, einen Vortrag über Hans Calmeyer. Später von der israelischen Gedenkstelle Yad Vashem als „Gerechter unter den Völkern“ augezeichnet, half Calmeyer in den Niederlanden über 3000 Juden, einer drohenden Deportation zu entgehen.
Er beurteilte in seiner Funktion als Beamter die Stammbäume zahlreicher Juden, die eigentlich zu 99,9% schon als sogenannte Voll- oder Halbjuden (Nazijargon) galten. Er deutete um wo er konnte, besorgte angebliche Papiere für Gegenbeweise und akzeptierte selbst Dokumente, die bei keiner anderen Nazibehörde in Europa durchgewunken worden wären.
Hans Calmeyer verschleppte auch die Bearbeitung des Falls von Jacqueline van Maarsen 1944. So lange, bis die Alliierten in Arnheim landeten, und sich die Dringlichkeiten der Nationalsozialisten dadurch extrem verschoben. Ohne Calmeyer wäre Frau van Maarsen heute vielleicht nicht bei uns.
Jacqueline van Maarsen und Ruud Sanders 2016
6.10.2016, 20.17 Uhr. Der Historiker erhält seinen höflichen Applaus für den fachlichen Einstieg, den er dem Publikum bereitet hat. Ich stehe an der Zwischentür des Nebenraums zum eigentlichen Veranstaltungssaal, und vor mir, hinter mir, neben mir, sehe ich einen Querschnitt der Kölner Stadtbevölkerung: Studenten, Kinder, mittlere Semester und eine Hand voll Menschen, die dem selben Jahrgang wie Frau van Maarsen entstammen könnten. Sie alle sind gekommen!
Sie sehen die wichtigsten Personen des Abends nun auf die Bühne kommen. In der Hand Notizen zu ihrem Buch „Ich heiße Anne, sagte sie, Anne Frank“, begeben sich Jacqueline van Maarsen und Ruud Sanders, unterstützt auch durch ihre Familie, auf das Podest. Ein lang anhaltender Applaus brandet auf.
Beide sind gegen 17 Uhr erst mit dem Auto in Köln angekommen, und in ihrem Alter hätten sich andere längst zur Ruhe gesetzt. Nicht so diese beiden – sie wollen der jüngeren Generation etwas mitgeben. Im Kampf gegen das Vergessen ihren Beitrag leisten, sogar noch mehr als das. In Zeiten von AfD, Pro Köln Wahlplakaten und Rechtspopulismus in ganz Europa nötiger denn je.
Die folgende Lesung der beiden geht etwa eine Dreiviertelstunde. Jacqueline van Maarsen erzählt von ihrer Kindheit, davon, wie sie Anne Frank auf ihrem Schulweg das erste Mal traf. Wie sie sich über den Unterricht im jüdischen Lyseum unterhielten. Wie Anne sie zum Haus ihrer Familie einlud. Annes Abschiedsbrief, den sie erst nach dem Krieg aus den Händen von Annes Vater, Otto Frank, entgegennehmen konnte. Dieses Tagebuch der Anne Frank, was in zahlreichen Editionen und Sprachen erschien, ich schätze es bereits seit Ewigkeiten.
Exkurs: Mein Besuch im Anne-Frank-Haus in Amsterdam
Nachdem die beiden zu Ende gelesen haben, konnten die Besucher Fragen stellen. Eine davon ist die Frau van Maarsen wahrscheinlich schon häufig gestellte Frage, ob sie wisse, wer die Familien Frank und van Pels verraten habe. Sanders antwortet, dass Otto Frank einen Verdacht hatte, diesen aber nicht beweisen konnte. Es ist eines der letzten ungelösten Rätsel um Anne Frank.
Vor einigen Jahren war ich in Amsterdam vor Ort, und dieser Abend erinnerte mich daran. Ich habe mir erlaubt, das Straßenschild der Prinsengracht als Titelbild zu verwenden, und füge hier auch nochmal ein Foto vom Anne-Frank-Haus ein.
Dass ich einmal jemanden sehe, der Anne Frank gekannt hat, und das sogar sehr gut, hätte ich mir beim Lesen ihres Buchs in der Schule nicht träumen lassen. Das war vor 12 Jahren…umso wichtiger ist es, dass die Stimmen der Warnung und der Vernunft nie versiegen.
Ich wünsche Jacqueline van Maarsen, Ruud Sanders, Hannah „Hanneli“ Goslar (eine andere Freundin der beiden), aber auch noch allen anderen noch lebenden Personen aus der dunklen Zeit Deutschlands noch viele gute Jahre und hoffe, dass sie mit ihrem Wirken und Tun noch viele Menschen erreichen.
Weiterlesen zu Anne Frank und Jacqueline van Maarsen:
- Porträt von Jacqueline van Maarsen auf annefrank.org
- vom Anne-Frank-Fonds autorisierte Fassung des Tagebuchs, zum Erwerb bei S. Fischer
- Mein Reisebericht zu Amsterdam auf wellness-bummler.de