Am 1. Mai werden Schlachten geschlagen – diejenigen, denen selbst das Resthirn als zu viel Ballast vorkommt, zieht es nach Hamburg und Berlin. Einen sympathischeren (und ehefrauenberuhigenden) Zeitvertreib haben die Bad Godesberger am 1. Maifeiertag begründet. Auch dort wird um sich geschlagen, allerdings mit Schachfiguren. Nach dem Bericht über das letztjährige Ramada Schachturnier in Brühl nun der nächste Schachreport. Wer wissen mag, warum man auch als Laie mindestens 1x bei einem Turnier dabei gewesen sein muss, hier geht’s zum Weiterlesen!
Anreise zum Spiellokal vom Bahnhof Bonn-Mehlem aus
Nachdem ich während meiner Zeit im Rheinland bisher ausschließlich mehrtägige Langzeitschach-Turniere gespielt hatte, war die Zeit reif für 11 Runden „quick“ und manchmal „dirty“ beim alljährlichen Godesberger Schnellturnier, das diesmal zum 43. Male ausgetragen ward.
Eine recht sinnvolle Beschäftigung an diesem Tag – ohne überviele Muße, aber im Gegensatz zur Beschäftigung von 80 % der übrigen Bevölkerung am 1. Mai ohne starke Alkoholika und volltrunkenes Verhalten. Die kulinarische Verpflegung durch den Verein sollte sich später als schmackhaft sowie auch als ein faires Preis-Leistungs-Angebot herausstellen.
Mit der Mittelrheinbahn (MRB) setze ich früh morgens 7.56 Uhr Richtung Bad Godesberg über, genauer gesagt zum Bahnhof Bonn-Mehlem, der letzten Station des VRS-Gebiets, für das mein Monatsticket gilt. Geringe Ausgaben am Tag der Arbeit, denn das Turnierstartgeld beträgt auch nur 15 Euro.
Großmeister aller Sorten werden zwar mit Erlass der Gebühr gelockt, dafür kann man sich aber von bekannten Größen wie diesmal Andrej Orlov, Dr. Ralf Schön und noch weiteren im Verlaufe dieser Nachlese genannten seine Eröffnungslektüre handsignieren lassen.
Gemeindehaus Domhofstraße als Spiellokal des Godesberger SK
Nachdem ich ein bisschen in Bonn Bad Godesberg umherirre, biege ich dann doch in die Antoniterstraße ein, auf direktem Weg zum Gemeindehaus der evangelischen Heiland-Kirchengemeinde in der Domhofstraße 45. Der ganze Ort ist ziemlich grün, Anwohner wünschen mir unverhofft einen Guten Morgen, und selbst der Friedhof, seines Zeichens oft eher ein düsteres Karma aussendend, ist die Ruhe und Vertrautheit selbst.
Hier im Gemeindehaus finden sonst an Sonntagen die Mannschaftswettkämpfe der Godesberger Schachvertretungen statt. Auch am heutigen Sonntag wird wieder um ganze und halbe Punkte gerungen, mitunter bis zur 2. Deutschen Schachbundesliga hinauf.
Und hier trifft sich die Schachexzellenz letztendlich. Bald schon wird dieser Raum von mehr als 100 Personen bereichert sein. Es ist 9.30 Uhr, als ich mich bei Finanzwart Heinz Bitsch und Turnierleiter Michael Senkowski als Vorangemeldeter fristgerecht zurückmelde. Es kann losgehen.
Ein Schachfreund mit selbstloser Geste
It is a Gentlemens’ sport and game – soviel sei auch einmal bezüglich des Schachs erwähnt. Jeder Fußballer wird in den Himmel gehoben, wenn er den Ball ins Aus kickt, weil selbiger seinem Gegenspieler kurz zuvor auf den Fuß gefallen ist und dieser sich deswegen vor Schmerzen krümmt.
Zu Gunsten eines anderen ganz auf eine geplante Turnierteilnahme zu verzichten, hat noch einmal eine ganz andere Qualität. Da das Turnier auf 100 Teilnehmer begrenzt ist, und es bereits 75 Voranmelder gab, füllt sich das Feld bereits vor 9.45 Uhr.
Als 101. kommt ein Mann mit Rollstuhl und einer Begleitperson an den Anmeldetisch. Ich sehe nur, dass sie auf die Nachrückerliste gesetzt werden, für den Fall dass doch noch jemand abspringt. 100 Spielwillige sind allerdings schon anwesend, es geht auch um Geldpreise, und für das 11rundige Turnier haben die meisten fest geplant und Anreisen aus ganz NRW hinter sich.
Ich weiß nicht, wer es war, aber 1 Schachfreund von den 100 tritt zu Gunsten des so knapp zu spät eingetroffenen Spielers vom Turnier zurück. Die Anreise für jemand mit Handicap ist sicher noch beschwerlicher, die Begleitperson ist dabei und nicht jedes Turnier ist barrierefrei. Da freut man sich umso mehr, wenn Weg und Planungen nicht umsonst waren. Guter Mann!
Der GröTaZ – Größter Turnierleiter aller Zeiten
Michael Senkowski vom Godesberger Schachklub ist heute der Turnierleiter. Einer seiner Freunde, wahrscheinlich selbst mit genügend Humor ausgestattet, misst ihm ebenfalls eine gehörige Portion davon bei, hat jemand ihm doch schließlich dieses Schild geschenkt, das er bei jedem Turnier vor sich aufgebaut hat.
Michael Senkowksi ist der Mann, ohne den heute nichts geht. Trotz aller Problemchen und Probleme, die auch ich von der Ausrichtung solcher Touren allzu gut kenne, tut er sich den Job gerne wieder an. Er benutzt für den Tag eine Schachturnier-Software, die neben der Paarungsauslosung auch feste Spielerpositionen an den Tischen vergeben kann.
Da bis auf die Cracks an den vordersten Brettern jeder Spieler pro Runde je nach Performance einen neuen Platz einnimmt, hätten die Rollstuhlfahrer zum Beispiel jede Menge Stress. Durch die Installation von festen Tischen für sie in der Software brauchen sie so nicht in die hintersten und engen Winkel des Turniersaals zu fahren.
PS: Wer mehr zum dahinterstehenden Schweizer System erfahren will, kann das hier noch mal von Dominic Bannholzer lesen.
Start des 43. Godesberger Schnellturniers an Brett 10
Dann geht es aber endlich los, die erste Runde des 43. Bad Godesberger Schnellschachturniers ist freigegeben. Da neben 13 IM (Internationaler Meister), FM (FIDE-Meister) und GM (Großmeister) auch sonst nicht gerade Schach-Fallobst hier herumläuft, rechne ich mir auf Grund der Setzliste keine hohen Chancen aus.
Mein Gegner in Durchgang 1, A.B. Gikas, wird auch bis zum Ende vorne dabei sein. Er hat, obwohl es keine Schreibpflicht gibt bei 15 Minuten Bedenkzeit, Partieformular und Stift dabei und notiert sich alle Züge. Vielleicht zum Analysieren zu Hause gedacht. Für meine Partie braucht er das aber dann sicher nicht mehr zu tun, höchstens zum Feintuning. 😉 Leider verloren also.
Aufreger gleich in der ersten Runde des Schnellschachturniers
Ich schlendere noch zum Brett 45, wo als letztes noch gespielt wird. Um das Brett der Spieler, die pro Runde als letztes noch die Farben fechten, bildet sich stets eine dichte Traube. Sie wird dichter, je ausgeglichener die Stellung, oder aber je kürzer die zur Verfügung stehende Bedenkzeit einer der Spieler noch ist.
An Brett 45 sitzt, mit den schwarzen Spielsteinen, Dr. Avetis Avagyan. Er befindet sich in der schlechteren Stellung, sein Gegner allerdings in akuter Zeitnot. Für das Mattsetzen mit Turm und König hat Weiß nur noch wenige Sekunden auf der Uhr. Der Gegner zieht trotzdem nicht zu hastig, aus gutem Grund – wirft er versehentlich eine Figur um, würde er durch das Wiederaufrichten (müssen) zu viel Zeit verlieren.
Die digitale Schachuhr und eine Diskussion um die Regeln
Der schwarze König von Dr. Avagyan wird in die von ihm aus gesehen linke obere Ecke getrieben. Sein Gegner kann auf diese Weise viel Weg und Zeit einsparen, da er mit der Führhand in der eigenen Zone bleibt, von ihm aus gesehen unten rechts. Noch 6 Sekunden.
Einen Zug vor dem Matt zieht der schwarze König auf das Feld a8. Weiß kann jetzt mit dem nächsten Zug Matt setzen, hat aber nur noch 1 Sekunde auf der Uhr. Er bringt den Turm auf c8#, derweil zählt der Counter aber herunter auf 0.00. Das Flaggensymbol erscheint auf dem Display der Digitaluhr, was anzeigt, welcher Spieler zuerst zeittot war.
Schwarz, eigentlich mattgesetzt, reklamiert nun mit Blick auf die Uhr des Weißen, dass das Partieresultat nicht Matt sein könne, da die Zeit des Gegners um sei. Als Gegenargument wird vorgehalten, dass eine Beendigung des Spiels (das muss nicht zwingend ein Matt sein, ggf. auch Patt oder Remis durch Stellungswiederholung) nach den Regeln Vorrang vor der Zeitregel habe.
Blitzschachregeln im Schnellschach – Matt vor Zeit?
Matt vor Zeit im Schnellschach? Im Blitzschach ist dem so. Aber im Schnellschach? Im Prinzip wurde das Matt innerhalb der 15 Minuten Bedenkzeit erreicht, nur die Uhr wurde nicht mehr angehalten und lief ab. Der Zug wurde also nicht vollständig ausgeführt, da das Uhrdrücken dazugehört. Millisekunden lagen zwischen Loslassen der Figur und 0.00 auf der Digitaluhr.
Was entscheidet der Schiedsrichter? Durch unterschiedliche Angaben wirklich zahlreicher Zeugen aus dem Pulk kann keine eindeutige Version des Geschehens rekonstruiert werden. Die Uhr hätte angehalten werden müssen. Klar, wenn Zeit dafür gewesen wäre – sonst hätte sich das Problem ja eh ad acta gelegt. Wahrscheinlich hätte Weiß das präventiv schon bei 6 Sekunden auf der Uhr tun sollen (meine Meinung), und den Schiedsrichter als Zeugen herbeirufen.
Dieser entscheidet auf Remis, was vielleicht eine ganz passable Lösung ist. Die Diskussion der beiden Kontrahenten ist friedlich, auch wenn der eine in Deutsch und der andere in Englisch argumentiert. Beide verstehen sich durchaus, nur bei 1 Wort stutzt Dr. Avagyan. „Der Schiedsrichter hat entschieden, es ist Remis.“ – „Sorry, what is „remis“?“
Ich helfe gerne aus und sage ihm, the referee decided the game to be drawn. „Oh, a drew,..ok. I think, drew is fair enough!“ Stimmt.
Auf und Ab im weiteren Turnierverlauf bis Runde 9
In der zweiten Runde hole ich mit Weiß den ersten Punkt. Überhaupt gestalten sich meine Ergebnisse bis Runde 8 nach folgendem Muster: verloren, gewonnen, verloren, gewonnen. Hat einer eine Ahnung, wie man das, bezogen auf das Schweizer System, welches dieses Muster ja ein wenig mitbedingt, nennt? Sagt jetzt aber nicht, man könne es ja „Unvermögen“ nennen! 😉
Irgendwann hat jedoch auch dieses Muster ein Ende. Nach hinten ist die Luft eh ein bisschen raus, und auch wenn ich die 50% nicht mehr halte, lerne ich doch zumindest ein paar nette und interessante Menschen kennen.
In Runde 9 spiele ich gegen Hedi Wahl, vom Godesberger Schachklub. Sie ist die einzige Dame beim GSK, erzählt sie mir. Gemeinsam mit ihrem Ehemann versucht sie heute, den Heimvorteil ein bisschen zu nutzen. Unsere Partie ist zerfahren, beide haben Sieg und Niederlage gleichermaßen verdient, um am Ende einigen wir uns auf ein 1.-Mai-Remis.
Ab Runde 9 blitze ich ohnehin niemanden mehr aus. Schon gar nicht Frau Wahl, denn sie stellt mir ihre „Schachkatzen“ vor. Offenbar finden ihre Haustiger großen Gefallen am Denksport. Oben im Foto zieht Frau Wahls Katze gerade aus dem Schachgebot. Da wird es zu Hause ja nicht langweilig!
Von Wladimir Jepischin über Gisela Fischdick bis Vincent Kaymer – die VIPs
So, jetzt kommen die Promis! Alle, die einen Titel oder mindestens einen Wikipedia-Eintrag haben, bitte hierher! Das ein oder andere Gesicht der vorderen Bretter (siehe Liste) hat man sicherlich schon mal gesehen. Auch wenn man dafür von den hinteren Spieltischen immer nach ganz vorne laufen muss. 😉
Ein Mann mit riesiger Statur und der unverwechselbaren Pudelmütze auf dem Kopf ist zum Beispiel ein Altbekannter. Wladimir Jepischin (transl. Vladimir Epishin) ist ein russischer Großmeister, jener dereinst im Sekundantenteam Anatoli Karpows war. Der 49jährige verfügt immer noch über eine ELO-Zahl von über 2500 und erreicht am Ende einen Treppchenplatz.
Im Bild oben spielt der 10jährige Vincent Keymer gegen den Zweitplatzierten Andrey Orlov des Turniers eine grandiose Performance. Vincent gilt als besonders vielversprechendes Schachtalent, das, gemessen an seinen Lenzen, schon weiter ist, als es Weltmeister Magnus Carlsen damals war. Regelmäßig fegt Vincent Keymer (ELO > 2300) stärkere und erfahrene Gegner vom Brett und senkt den Altersdurchschnitt an den ersten Turniertischen.
Großmeisterin Gisela Fischdick hält indes die Fahne der Damen dort hoch. Die Mülheimerin mischte insbesondere in den 70er und 80er Jahren im internationalen Frauenschach mit und ist einschlägig in der zugehörigen Literatur bekannt. Sie wird am Ende beste Dame beim Godesberger Schnellturnier und verfehlt das Treppchen nur knapp.
Thomas Koch gewinnt das 43. Godesberger Schnellschachturnier
Am Ende heißt der Sieger jedoch, und das wohl auch nicht zum ersten Mal, IM Thomas Koch vom Aachener Schachverein. Der fast 44jährige setzte sich in 11 Runden gegen 99 Konkurrenten durch. Angesichts dieser Zahlen kann man sich am 1. Mai ja durchaus mal ein Schnäpschen gönnen. Aber irgendwie muss man auch noch die Heimfahrt antreten.
Nach Beendigung der Siegerehrung spreche ich noch mit dem GSK-Vorsitzenden Robert Biedeköpper. Er freut sich schon auf den Artikel hier, ist aber auch besorgt darüber, ob das Godesberger Schnellturnier auch 2016 noch in diesem Rahmen stattfinden könne.
Denn zur Zeit wird erst noch über eine Weiternutzung der Räumlichkeiten verhandelt. Die Godesberger hoffen, dass sich die Gemeinnützigkeit und Integrationsfähigkeit des Schachs dabei als Argument geltend machen können. Nicht nur am 1. Mai sitzen nämlich die Menschen mit friedlichen Absichten hier beisammen, auch sonst gehen Kinder, Senioren und Erwachsene das ganze Jahr über einer sinnvollen, sozialen Beschäftigung nach.
Ich hoffe, ich konnte dies heute für alle Interessierten und Involvierten ein wenig nachzeichnen. Beim Schach werden nicht nur Pferde und Damen „geschlagen“, sondern Denksport auf allerhöchstem Niveau und vor allem Umgangsformen gepflegt.
In diesem Sinne, bleibt sportlich,
euer Thilo
Weiterführend zum Godesberger Schachklub und zum Schnellturnier
- Website des Godesberger Schachklub 1929 e.V. mit genaueren Infos zum Turnier (in Bälde)
- Artikel auf Chessbase über Vincent Keymer
- Weitere Schnellschachturniere 2015 auf der Seite des OSC Rheinhausen
2 Antworten zu “Am 1. Mai wild drauflos kloppen – beim Bad Godesberger Schnellschachturnier”
Ein toller Bericht, man würde gerne einen solchen nach jedem Turnier lesen, bei dem man selbst nicht dabei war!
…dann muss der gute Thilo jetzt an noch mehr Turnieren teilnehmen! 😉